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Die Angst des Vorlesers

aus: Die Angst des Vorlesers

 

Der Abend war seit langem und minutiös geplant. Der Raum hinten in der Kneipe war gebucht, mit dem Wirt das Catering vereinbart und die Werbung ausgetüftelt. Und meine Texte. Die Texte, die ich an diesem Abend vortragen würde, waren alle überarbeitet, seit Wochen, jedes Wort, jede Zeile, jedes Satzzeichen.

Jetzt stand alles! Perfekt.

Die Beleuchtung des Raumes war so, wie man sie sich nur wünschen konnte. Ein auffälliges, aber geschmackvolles Plakat kündigte meinen Leseabend an. Es konnte losgehen, ich war in der richtigen Stimmung.

Der Kneipenwirt schaute alle paar Minuten herein, ob es etwas zu bedienen gab. Er sah mich jedes Mal fragender an, wenn er mich immer noch allein im Saal sitzen sah.

Es kam niemand.

Es kam niemand, der mir zuhören wollte.

Ich ging vor die Tür und blickte nach links und rechts. Ich schaute die Werbung durch, ob das falsche Datum angegeben war, der falsche Ort, das falsche Jahr. Aber alles stimmte.

Der Wirt kam auch nicht mehr.

Da!

Da öffnete sich die Tür. Vorsichtig lugte ein Mann herein. Es war nicht der Wirt. Ich erstrahlte.

Bin ich hier richtig?“ Der Mann behielt den Türgriff in der Hand und blieb auf der Schwelle stehen.

„Ja, sicher! Goldrichtig!“, sagte ich und lächelte ihn breit an.

„Meine Frau sagt, da kannst du ruhig auch mal hingehen, sagt sie“, sagte der Mann und schaute sich vorsichtig um.

„Nehmen Sie Platz“, sagte ich, „Ihre Frau hat völlig recht!“

„Ich weiß gar nicht, wie so etwas abläuft“, sagte der Mann.

„Gar kein Problem! Sie setzen sich, bestellen sich etwas zu trinken, wenn Sie mögen, und hören zu.“

„Aha“, erwiderte der Mann und kam langsam näher. „Meine Frau hat mir alles aufgeschrieben.“

Aha“, sagte nun auch ich, verbunden mit einem leisen Fragezeichen. In diesem Augenblick kam der Wirt und guckte mich an. Ich nickte und er wandte sich an unseren Gast.

„Was darf's denn sein?“

„Einen Pfefferminztee. – Äh – und ein kleines Bier – und eine Bullette, bitte.“

Ich blickte verstohlen auf die Uhr. Schon zehn Minuten über die Zeit. Ich begann zu lesen. Mein Gast guckte etwas erstaunt, ließ es sich dabei aber sichtlich gut schmecken. Nach meiner dritten Geschichte bestellte er sich noch eine zweite Bullette und ein großes Bier dazu. Und einen Schnaps. 'Köhm' sagte er dazu.

Ich las ihm mein gesamtes Programm vor und der Mann schaute mir dabei zu. Vielleicht hörte er auch zu. Warum auch nicht, sagte ich mir, und fragte ihn nach einer Stunde, ob er noch etwas hören wolle.

Och, gern“, sagte er, „ist mal was anderes als Pilcher im Fernsehen“, und trank seinen dritten 'Köhm'. Sein Tee stand kalt und unberührt daneben.

Aber“, sagte er, „warten Sie mal kurz, sonst vergesse ich das nachher noch. Er wühlte in seinem Leinenbeutel herum, holte eine Handvoll uralter Tupperschüsseldeckel heraus, stand auf und legte sie mir auf meine Lesemanuskripte. „Die soll ich in neu mitbringen. Und einmal die Orangensaftpresse 'spritzig' dazu, am besten - “ er wühlte einen zerknitterten Zettel heraus „ als Gastgeschenk.“ Er schaute mich fragend und schulterzuckend an. „Wenn das geht.“

Ich schaute zurück.

„Na, wie auch immer“, sagte er und setzte sich wieder hin, „Herr Ober, noch einen 'Köhm' bitte.“

„Mir auch“, sagte ich – und begann die Zugabe zu lesen.